Hans-Peter Miksch
Nachtstücke
Es ist die Nacht, die den Menschen schlafen schickt. Sie braucht keine Zuschauer wie der Tag. Menschenleer sind daher die Nachtbilder des Mathias Otto. Einmal hockt ein auf dem Bolzplatz vergessenes Kind in einem netzlosen Fußballtor. Sonst keine Gestalten weit und breit. Oder verbergen sie sich in den Schatten? Man müsste noch einmal genau nachsehen… Eine schwermütige Komposition – ein Bild wie ein Notturno.
Die Nacht geht dem Tag voran. Jedenfalls ist das so in den Schöpfungsberichten. Die Nacht folgt dem Tag. So ist das in allen Endzeitvisionen. Ohne ein bisschen Auferstehung sind um uns lauter schwarze Löcher. Woher kommt die Anziehungskraft des Dunkels? Weil vor und nach unserer Lebenszeit Dunkelheit ist, weil wir aus ihr kommen und wieder in sie eintauchen irgendwann? Von ihrer Fähigkeit zur Verwandlung und zur Täuschung? Vertrautes wird fremd, Fremdes bizarr, Bizarres abstrakt. Gib` mir die Nacht!
Drei Gemälde nächtlicher Dorfstraßen betitelt Mathias Otto mit „Schrödingers Fuchs“ (I-III). Es könnte sich um Abschnitte ein und derselben Fahrbahn handeln; dass die nächtlichen Szenerien noch im Einzugsbereich einer Siedlung liegen, ist jeweils durch die künstliche Lichtquelle unabweisbar, die das Geschehen unzulänglich ausleuchtet, wenn auch sonst alles sehr abgeschieden-ländlich wirkt. Die Titel sind eine Anspielung auf das Gedankenexperiment zur Quantenmechanik, mit dem die Gleichzeitigkeit zweier Zustände veranschaulicht werden soll. In diesem Gedankenspiel mit dem korrekten Titel Schrödingers Katze ist die Katze in einer Box gleichzeitig tot und lebendig. Erst, wenn der Beobachter die Box öffnet, entscheidet sich, in welchem Zustand die Katze ist. Bei der kleinen Bilderserie „Schrödingers Fuchs“ entscheidet der Betrachter, ob der Fuchs in der Dunkelheit am Feldrain wartet, ob er bereits die Fahrbahn überquert hat, vielleicht inzwischen angefahren und sterbend. Oder hat er sich mit seiner Beute im Schutz der Dunkelheit davongemacht? Kalauernd könnte man sagen, dass die Nacht die Black Box schlechthin ist. Nichts ist spannender, als ein verschlossenes Behältnis zu öffnen, selbst auf die Gefahr hin, dass es sich um die Büchse der Pandora handelt. Nichts aufregender, als die dunklen Bilder zu betrachten. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Apropos Schlaf der Vernunft: Von Francisco de Goya, dessen so betiteltes Bild mit der Phrase untrennbar verbunden bleiben wird, gibt es die berühmte Folge der Schwarzen Bilder. Doch diese Bilder, die er zwischen 1819 und 1823 direkt auf die Wände seines Landhauses Quinta del Sordo bei dem Fluss Manzanares malte, haben ihren Obertitel nicht vom Maler selbst. Es sind, bis auf „Saturn“ und „Judith und Holofernes“ keine Nachtbilder, sie sind auch nicht überwiegend mit schwarzer Farbe gemalt. Was sie so „schwarz“ macht, ist ihre überwältigend düstere Atmosphäre, sind die beklemmend-irrationalen Sujets, die latente oder offene Gewalt der Szenerien[1]. Ihre Wirkung hält an, seit die von den Wänden abgenommenen Bilder 1878 im Trocadéro-Palast bei der Weltausstellung in Paris gezeigt wurden, weil es zum einen keinen Konsens über die Interpretationen gibt, zum anderen aber eine besondere Nähe zum kritischen Lebensgefühl vieler späterer Generationen von Rezipienten.
Mit der intellektuellen Anspielung auf ein gedankliches Experiment zum Verständnis der Quantenmechanik und des radioaktiven Zerfalls als Bildlegende(n) wird deutlich, dass Mathias Otto an dem interessiert ist, was ein Nachtstück ausmacht: Die Unbestimmtheit und Offenheit des Ausgangs einer Geschichte, die Nacht als der Möglichkeitsraum schlechthin, ein anormaler Zustand der Verwandlung – der Verwandlung einer Geschichte oder eines Gegenstandes oder einer Person. Der Beobachter ist derjenige, der das Ergebnis des Experiments beeinflusst; analog setzt die Kunst seit mehr als einem halben Jahrhundert voraus, dass das Werk erst durch die Rezeption vollständig wird und ‚aufgeht’.
Es passiert oberflächlich so rein gar nichts in den Bildern des Mathias Otto, dass man alleine deshalb misstrauisch wird und letztlich alles für möglich hält. Was wird da versteckt, was verschwiegen? Was wird mystifiziert, was romantisiert? Man wagt nicht, ihn selbst zu befragen, denn er könnte sich spielend leicht zurückziehen auf technische Fragestellungen wie die, auf welche Weise man das saugende Schwarz des sternenlosen Himmels malt und wie die in der Nacht fast gänzlich verschwindenden Farben, wann die harten und wie die weichen Schatten? Man befürchtet, dass der Maler, wie das häufig der Fall ist, das allzu Offensichtliche leugnet: Er selbst sieht seine Arbeiten weder als mystisch noch bedrohlich an, ihn interessieren ausschließlich die sich auflösenden Konturen, die Weichheit des Lichts der Dämmerung und der punktuell künstlich erhellten Nacht. Keine Bedrohung? Nun gut, wenn es keine (potentiellen) Tatorte sind, dann wären es quasi Bilder einer „Amerikanischen Nacht“, der längst überholten filmischen Technik des Als-ob, einer Inszenierung, an der nichts authentisch ist, und die mit einem billigen Trick, nämlich einer dunklen Linse, Aufnahmen bei Tageslicht umpolt zu nächtlichen. Jenseits aller Abgründigkeit und jenseits des Unaufgeklärten gibt sich der Maler als kühler Erforscher von Verhältnissen von Licht und Schatten, als ein von prekären, kostbaren Zonen zwischen Tag und Nacht herausgeforderter Handwerker. Diese Täuschung müssen wir einkalkulieren: Die Selbsttäuschung, dass wir ein Zuviel an Erzählung hineinsehen in solche Bilder.
Zonen und Zeiten der Verwandlung: Nicht, dass der helle Sonnenschein und eine in feierliches Licht getauchte Szene nicht höchst attraktiv sein könnten. Nicht erst seit den Fauvisten wurden die Begriffe Licht und Farbe beinahe synonym gesetzt. Es ist nur nicht zu bestreiten, dass die Dunkelheit wenigstens ebenso attraktiv ist! In der geringen Zahl fester Zuschreibungen von Bildern wetteifern ein Jan Vermeer und ein Georges de La Tour, von dem ab 1635 nur noch Nachtstücke verbürgt sind. Und genauso hart wetteifern sie in der Gunst: Dort das köstliche natürliche Licht, in den Pigmenten und ihrem Malmittel vielfach gebrochen und gespiegelt, hier die köstliche Dunkelheit der Kerzenlichtmalerei, die natürlich, ob unmittelbar oder nicht, von Großmeister Caravaggio abgeleitet ist.
Edgar Allen Poe war es, der erklärte, dass der Zweck der Kunst die Schaffung von Schönheit sei, ganz wörtlich„creation of beauty“, die er ineins setzt mit der Erzeugung von Lust- und Glücksgefühlen, welche – und darauf kommt es an – vor allem mit Grauen und Trauer, Mystik und Wahnsinn einhergehen, niemals jedoch mit Moral oder Wahrheit. Wobei man die Wahrheit nicht mit der Wirklichkeit verwechseln sollte oder umgekehrt.
Ein Tafelbild von Mathias Otto aus dem Jahr 2007, klassisch auf Holz gemalt, zeigt ein Auto, das mit eingeschaltetem Abblendlicht auf einem Waldweg steht. Die Fahrertür steht offen, die Innenraumbeleuchtung ist an. Es scheint, als würden die Bremslichter brennen. Von einem Fahrer keine Spur. Oder liegt er auf den Vordersitzen, mit einem Fuß auf dem Bremspedal? Ist er vom Wagen weg gegangen? Eine Panne, ein Defekt? Menschliche Anwesenheit ist gewiss. Zumindest ist sie gewiss bis zu der Zeit, in welcher der Betrachter die Szene erblickt: Ich sehe hin und niemand ist da. Weil ich hinsehe?
Ein anderes Bild trägt den lapidaren Titel „Abendessen“ (2008). Doch was nach einer harmlos-harmonischen Konstellation klingt, entpuppt sich als menschenleeres Wohnzimmer. Man sieht von außen hinein in diesen Raum, denn rechts ist eine Glastür groß angeschnitten, und vor dem Betrachter breitet sich ein moderner Designerteppich im Stil indischer Dhurries. Es ist Nacht, der Fernseher flimmert bläulich vor sich hin; um den Esstisch, annähernd in der Mitte des Raumes, stehen fünf schwarze Designstühle aus lackiertem Buchenholz wie Stellvertreter der Menschen, die auf ihnen sitzen könnten. Ein mittlerer Stuhl ist zurückgeschoben, als wäre sein Besitzer für einen Moment aufgestanden, um gleich wiederzukehren. Auf dem Platz vor diesem Stuhl liegt eine aufgeklappte Pizzaschachtel, in der anscheinend noch Reste einer Pizza liegen und ein kleines Küchenmesser. Und angelehnt an die über die Tischkante hinausragende Rückenlehne eines eingeschobenen Stuhls auf der anderen Seite des Tisches lehnt ein Teddy. Das Arrangement hat etwas zwingend Erzählerisches. Das Abendessen ist wohl alltägliches Fastfood eines Spätheimkehrers. Gegenstände verweisen auf die Anwesenheit eines oder mehrerer Kinder in der Wohnung. Der Essplatz einer modernen Familie, aber in seiner nächtlichen Verlassenheit und mit den melancholisch stimmenden Essensresten, zu denen ein leeres Wasserglas zählt, beinahe dysfunktional.
Wie harmlos ein Titel sein kann: „Auto Juvenellstraße“ (2008). Der Betrachter nimmt die Position eines Beobachters ein, der vom Obergeschoss eines Hauses aus über niedrige dunkle Anbauten und ein Gartengrundstück auf ein leicht schräg verlaufendes Straßenstück in der linken Bildmitte blickt. Die Straße, die an ihrem oberen Rand von einem Gartenzaun und einem weitgehend verschatteten Gartengrundstück begrenzt wird, ist nur zur Hälfte zu sehen, weil miteinander verschmelzende Bäume die Sicht einschränken. Eine typische Straße eines ruhigen Viertels mit eingewachsenen Einfamilienhäusern. Doch zwischen den Ästen blinken Sternen gleich die Straßenlampen herüber zum Betrachter, ein Effekt, wie er besonders zu erleben ist, wenn etwas wie die Zweige windbewegt vor der Lichtquelle hin- und herschwingt. Auf der Straße ist ein älterer Kombi zu sehen. Dieses Bild erinnert mit seiner Atmosphäre unweigerlich an die berühmteste derjenigen Aufnahmen, die nachts mit hellen Scheinwerfern gemacht wurden vom Tatort der Ermordung der Begleiter von Hanns Martin Schleyer bei dessen Entführung im Jahr 1977 – eine abgeschiedene Straße in einem gutbürgerlichen Wohnviertel mit etlichen freistehenden Häusern. In den Bäumen, die die stille Bühne umrahmen, spielt sich jedoch das eigentliche Drama ab. Oder es hat sich scheinbar dorthin zurückgezogen, gibt eine letztlich banale Mitte – der abgestellte Kombi! – frei.
Der gemeinsame Charakter aller dieser Nachtstücke von Mathias Otto ist gemalte Latenz. Die farblichen Kontraste setzt er minimalistisch (man darf an die Stelle dieses Begriffs fakultativ das Wort hochsensibel stellen), dafür existieren genügend räumliche Kontraste. Es sind Bilder, die einer relativ ursprünglichen Schaulust gewidmet sind. Sie gehen von der Konvention des Realismus aus, weil sie, wie der Literaturhistoriker Heinz Schlaffer[2] sagt, die Kürze unserer Wahrnehmung einkalkulieren und wie fast alle Kunst seit der Antike auf sofortiges Verstehen berechnet sind. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass man sich in ihnen nicht verlieren könnte; denn auch wenn man sofort erfasst, um welche Stimmung und sinnliche Form es geht, wecken die unterschiedlichen Szenen unsere Lust, sie mit eigener Fantasie auszuschmücken und zum Reden zu bringen.
In allen Bildern von Mathias Otto steckt eine urbane Qualität[3], die der Kritik durch die Restbestände von Natur unterliegt. Wenn Bäume, Büsche, Pflanzen im weitesten Sinn als Dekor, Zurückgedrängtes oder Randständiges, als Teil einer (Vor-)Stadtmöblierung in diesen Bildern auftauchen, dann wird diesem Lebendigen von der Magie der Dunkelheit Respekt erwiesen: Die an und für sich marginalisierte Natur unserer Städte bekommt in der Nacht einen märchenhaften Ton. Dieses unterschwellige Anknüpfen an eine ältere Malerei, die die Natur in den Mittelpunkt stellt, ist eine zweite Ebene, die Mathias Otto dem Betrachter offeriert. Er negiert also nicht die unterschiedlichen Ansprüche einer vielfältigen Rezeption durch unterschiedliche Publika, aber er bringt mit den Naturbezügen eine überzeitliche Referenz ins Spiel, einen Tribut an die Geschichte der Malerei.
[1] deshalb sind sie eben „schwärzer“ als die mit Schwarz auf Schwarz gemalten „Black Paintings“ eines Ad Reinhardt